Große Helden

Viele unserer Klienten sind um die 16, männlich und vor allem sind sie ganz, ganz große Helden.

Große Klappe, Nazis („Ich hasse Ausländer!“ „Ähm, kommst du nicht aus Polen?“) und Sexisten („Frauen gehören in die Küche, die sollen nicht arbeiten!“ „Ähm, hast du nicht die Schule abgebrochen, keine Ausbildung, kein Geld? Wovon würdest du denn mit ner Frau zusammen leben?“), lassen sich von niemandem etwas sagen und erst recht nichts vorschreiben. Regeln gelten – aber nur ihre eigenen und auch nur für die Anderen. Sie selber tun tagein, tagaus was sie wollen.

Wenn sie irgendwo hinwollen, fahren sie schwarz, wenn sie irgendetwas haben wollen, klauen sie es und wenn ihnen jemand komisch kommt, schlagen sie zu. Die Polizei finden sie witzig, mehr als nach nem Namen fragen können die ja nicht (kaum einer hat überhaupt einen Ausweis) und wenn sie mal einen mitnehmen, lassen sie den nach ein paar Stunden wieder gehen.

Wenn sie irgendwann dann mal vor Gericht stehen, finden sie das auch noch ganz cool. Hat man was zu erzählen und zum angeben. Und vor allen Dingen eine neue Gelegenheit, zu beweisen, dass man sich von niemandem etwas sagen lässt. Im Zweifelsfall war es sowieso ne Richterin, die eigentlich in die Küche gehört. Wenn man vor Gericht gefragt wird, antwortet man mit „Weiß isch nisch.“, „Nää“, „Ey, alta, der andere hat voll angefangen!“ oder „Isch war das gar nisch, war wer anders.“. Die, die es gut haben, werden hinterher noch von Mami getröstet, wie gemein doch das böse Gericht zum armen Kind gewesen ist. Sozialstunden werden mal ignoriert, mal halbherzig abgeleistet. Und so leben sie ihr Leben, begehen Straftat um Straftat.

Bis das böse, gemeine Gericht irgendwann kein Erbarmen mehr hat. Wenn ein 16jähriger zum 3. oder 4. Mal vor dem Richter steht, finden diese das irgendwie nicht mehr lustig. Meistens ist dann ne Haftstrafe fällig. Auch das finden die meisten unserer Klienten noch ganz cool, ist ja meistens nicht lange und beweist, was fürn harter Kerl sie eigentlich sind…

… bis sie im Gefängnis angekommen sind. Bislang hat noch bei jedem einzelnen unserer Klienten nach spätestens 2 Tagen das Telefon geklingelt: “ Lukas geht es hier überhaupt nicht gut, er ist suizidal. Er bittet dringend um Besuch vom zuständigen Sozialarbeiter/Betreuer/o.ä.!“ Und schon sind die großen Helden sooo klein mit Hut.

Und wir fragen uns jedes Mal: Sind die Leute wirklich so dumm? Glauben sie echt, im Gefängnis ist es cool? Oder glauben sie ernsthaft, sie könnten ewig so weiter machen und würden, auch bei 3 Gerichtsterminen im Monat, niemals zu Haftstrafen verurteilt?

Oder ist alles nur ein Trick, in der Hoffnung, wieder entlassen zu werden? Das würde erklären, warum viele schon am Tag ihrer Entlassung weiter machen wie vorher, obwohl sie 3 Tage vorher noch suizidal waren. Doch auch, wenn sie vorzeitig wieder rausgelassen werden – das nächste Gerichtsverfahren für Straftaten vor der letzten Verurteilung steht meistens schon kurz bevor.

Chayenne

Chayenne ist vor etwas über 16 Jahren geboren, ihre Mutter war zu dem Zeitpunkt erst 18, aber in einer festen Beziehung und das Leben der drei lief ganz gut. Zwei Jahre später ist Chayennes erster Bruder geboren und zwei weitere Jahre später ein weiterer Bruder. Der jungen Familie ging es so weit ganz gut. Chayenne war das Lieblingskind ihres Vaters, der mit Jungen nicht so viel anfangen konnte, so dass Chayenne ihre Brüder immer mal wieder ihm gegenüber verteidigte. Ansonsten mochte sie die Natur und war viel draußen.

Als Chayenne in die Schule kam änderte sich ihr Leben, ihre Eltern trennten sich nämlich zur gleichen Zeit, was in Chayennes Augen die Schuld der Mutter war. Diese lernte einige Zeit später einen neuen Mann kennen, der nun Chayennes Stiefvater ist. Dieser war nett zu allen Kindern, von daher war die Sache okay.

Mit der Schule hatte Chayenne es nicht so. Die Grundschule war noch okay, aber in der Gesamtschule lief es nicht mehr. Sie langweilte sich, nahm ihre Lehrer nicht ernst, fühlte sich nicht ernst genommen und teilweise auch bloß gestellt, wenn sie im Unterricht dran genommen wurde. Zu ihrem Glück zu der Zeit hatte sie mehrere Klassenkameraden, die sich ähnlich fühlten und so begannen sie, ab und an zusammen die Schule zu schwänzen und sich mit älteren Jugendlichen zu treffen, die irgendwer von irgendwo kannte.

Sicherlich ist es nicht schwer zu erraten, was schulschwätzende Jugendliche tagsüber so treiben. So dauerte es auch nicht lange, bis Chayenne anfing, Haschisch zu rauchen und die entspannende Wirkung ganz wunderbar fand. Geld brauchte sie dafür nicht, irgendwer hatte immer was dabei und teilte ganz brüderlich. Zu diesem Zeitpunkt war Chayenne 11.

Kiffen hat einen Nachteil: Es wird einem alles egal. Nachdem ersten Halbjahr in der 6. Klasse beschloss Chayenne, gar nicht mehr zur Schule zu gehen und sich nur noch mit ihren Freunden zu treffen. Haschisch wurde langweilig, Kokain musste her. Zeitgleich lernte sie einen Mann kennen, der 29 war und mit dem sie mit 12 eine Beziehung begann. Dieser Mann war ein beruflich hochqualifizierter… Drogendealer, der Chayenne mit allem versorgte, was sie so haben wollte und so wurden aus Kokain bald Amphetamine.

Chayennes Mutter fand das alles wenig witzig, schaltete das Jugendamt ein, das wiederum die Polizei einschaltete, die Chayenne eine zeitlang zur Schule brachte. Meistens war sie nach der ersten Schulstunde wieder weg. Zu Hause gab es sowohl mit ihrer Mutter und dem Stiefvater als auch beim ihrem leiblichen Vater nur noch Streit und Chayenne fing an, ihren Eltern Geld zu klauen. Ihre Mutter ließ ihr Kind, dass sich schließlich massiv selbst schädigte, in die Psychatrie einweisen, doch die mussten sie nach 3 Tagen wieder gehen lassen, da keine Gefährdung vorlag. Das Jugendamt beschloss, dass es so nicht weitergeht und ließ Chayenne stationär unterbringen. In der ersten Einrichtung blieb sie ein paar Wochen, dann war sie verschwunden. Irgendwann fand man sie wieder, brachte sie in eine andere Einrichtung, wo auch ein paar Wochen blieb, doch irgendwann verschwand sie auch von dort. Einige Monate später fand die Polizei sie bei ihrem Freund, dem deutlich älteren Drogendealer ohne festen Wohnsitz, den sie auch gleich mitnahmen, weil ein Haftbefehl gegen ihn vorlag. Chayenne, völlig verwahrlost, kam in die nächste stationäre Einrichtung, wo die Jugendlichen nachts eingeschlossen wurden. Sie sparte ein paar Wochen ihr Geld, verließ eines Tages die Einrichtung und kaufte sich eine Fahrkarte in ihre Heimatstadt.

Sie fand Unterschlupf bei einer etwas älteren Freundin und beschloss mit 15, dass sie genug von den Drogen habe. Vom einen auf den anderen Tag war sie clean, vom Rauchen mal abgesehen. Ihre Mutter und Geschwister traf sie regelmäßig, das Verhältnis wurde langsam besser, ihr leiblicher Vater will allerdings nichts von ihr wissen. Nach einiger Zeit lernte sie einen neuen Mann kennen, der diesmal „nur“ 10 Jahre älter war als sie. Die Beziehung war mehr halbherzig und nach 2 Monaten ordnete Chayenne eine Beziehungspause an. Ungefähr zur gleichen Zeit, 3 Tage vor ihrem 16. Geburtstag, stellte sie fest, dass sie schwanger ist. Eigentlich wollte sie das Kind zuerst nicht haben, doch ihr Partner wollte das so gerne. Von diesem hat sie sich weitere 4 Wochen später endgültig getrennt.

Da sind wir nun: Chayenne, 16, mit Drogenerfahrung und Abschluss der 5. Klasse, ist schwanger von einem Mann, den sie nie wieder sehen will. Auf das Leben mit Kind freut sie sich nicht, behalten will sie es trotzdem. Sie lebt in der Wohnung einer Freundin, die nie da ist, schläft den ganzen Tag, verbringt die Nacht fernsehend und raucht ohne Ende. Ihre Mutter unterstützt sie mit 150 € im Monat und ist auch sonst für sie da, will aber nicht, dass sie wieder zu Hause einzieht, da sie denkt, dass die Probleme sonst von vorne losgehen oder Chayenne irgendwann weg ist und sie mit ihrem Enkelkind alleine da steht. In ein Mutter-Kind-Heim will Chayenne nicht, sie würde gerne bei ihrer Mutter einziehen oder eine eigene Wohnung haben und es allen beweisen, dass sie das schon schaffen wird.

Und nun?